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Stadtentwicklung
Post-Corona-Stadt

Niedergang oder Neustart?

Über Jahrzehnte hinweg hatten Fußgängerzonen eine Doppelfunktion: Sie waren Einkaufsstraßen und zugleich Orte der Begegnung. Das hat sich grundlegend geändert. Dort, wo früher das Leben pulsierte, bestimmen heute vielerorts Tristesse und Leerstand das Bild. Die Lockdowns der Corona-Pandemie sind aber nur ein Teil des Problems. Auch andere Aspekte sind Treiber dieser wenig erfreulichen Entwicklung. Bleibt die Frage: Niedergang oder Neustart – wie sieht die Zukunft der Innenstädte aus?

#innenstadt#corona

Verwaiste Zentren, geschlossene Geschäfte, massive Umsatzeinbußen. Schon länger kämpfen Innenstädte gegen zunehmenden Leerstand, Funktionsverlust und Verödung. Die Lockdowns haben diese Entwicklung weiter verschärft. Das eingeschränkte öffentliche Leben stellt insbesondere Handel, Gastronomie und Hotelgewerbe vor enorme Herausforderungen. Das Online-Geschäft hingegen boomt ... Um dem Sterben in Raten und den daraus resultierenden gesamtgesellschaftlichen Folgen entgegenzuwirken, muss sich die City neu erfinden. Denn: Die Krise und der strukturelle Wandel bedeuten zugleich auch eine große Chance. Doch wie gelingt eine solche urbane Erneuerung?

Lebenswerte City: vielfältig, sozial und grün

Fakt ist: Auch zukünftig bleibt die Innenstadt elementarer Bestandteil der Lebensqualität für alle Bevölkerungsgruppen. Allerdings muss sie wieder stärker zum multifunktionalen Ort und lebendigen Treffpunkt werden. Die Rückkehr von Handwerk und Produktion, aber auch Wohnen und Arbeiten sind dabei wesentliche Schlüssel. Darüber hinaus müssen Zentren wieder zu Erlebnisräumen werden, in denen sich Menschen begegnen und kommunizieren können – nicht nur in Restaurants, Cafés oder Bars. Um Vielfalt und Resilienz im Quartier zu erzeugen, sind Mixed-Use-Konzepte gefragt. Hochschulen, Studentenwohnheime, Theater, Museen, Gründerzentren und Co-Working-Spaces beispielsweise könnten die Innenstädte neu beleben. Ebenso nötig: alternative Mobilitätskonzepte. Grün- und Freiflächen stärken die Qualität als Aufenthaltsort. Nicht zuletzt könnten weitere Verlierer der Pandemie neue Räume erhalten: die Kultur- und Bildungseinrichtungen. Nur mit ganzheitlichen Konzepten werden Fußgängerzonen für Besucher wieder attraktiv – und damit auch für Investoren. Städte und Gemeinden müssen daher schnellstmöglich in die Lage versetzt werden, ihre individuellen kurz-, mittelund langfristigen Strategien zu entwickeln.

Gastfreundschaft und Attraktivität der Innenstadt

Videobotschaft von unserer Geschäftsführerin Monika Fontaine-Kretschmer in ihrer Funktion als stellvertretende Sprecherin des Vorstands beim Bundesverband „Die Stadtentwickler“ für den Digitalkongress der Zukunftsinitiative Rheinland-Pfalz "Stadt in Bewegung - Erlebnis Innenstadt" am 23. und 24. November 2021.

Unsere Innenstädte müssen lebenswerter, bunter, digitaler, klimaresilienter und damit auch krisensicherer werden.

Monika Fontaine-Kretschmer - Geschäftsführerin der Nassauischen Heimstätte | Wohnstadt

"Beirat Innenstadt": Expertise gefragt

Um Kommunen bei der Krisenbewältigung zu unterstützen, hat das Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat im letzten Jahr den "Beirat Innenstadt" gegründet. Mit Vertretern der Gewerbe- und Immobilienwirtschaft, dem Handel und Handwerk sowie den Kommunalen Spitzenverbänden entwickeln die Experten derzeit eine gemeinsame Innenstadtstrategie und erarbeiten Handlungsempfehlungen. Die Themen im Fokus: temporäre Lösungsansätze und Ad-hoc-Maßnahmen, Leerstandsmanagement, neue Formen der Beteiligung, Umgang mit neuen Arbeitswelten, Mobilität und Digitalisierung. Auf ein erstes Konzeptpapier hat man sich bereits im Januar verständigt. Mitglied des Beirats ist auch Monika Fontaine-Kretschmer, Geschäftsführerin der Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte | Wohnstadt und stellvertretende Sprecherin des Bundesverbandes DIE STADTENTWICKLER. Welche konkreten Vorschläge sie bei einer Expertenanhörung im Bauausschuss des Deutschen Bundestags einbrachte, lesen Sie in nachfolgendem Interview.

Interview

Kräfte bündeln für die City

Mit der PolisVision sprach Monika Fontaine-Kretschmer, NHW-Geschäftsführerin und stellvertretende Sprecherin des Bundesverbandes DIE STADTENTWICKLER, über die Zukunft der Innenstädte.

POLISVISION: Frau Fontaine-Kretschmer, als stellvertretende Sprecherin des Bundesverbandes DIE STADTENTWICKLER haben Sie im Januar vor dem Bauausschuss des Bundestags gesprochen. Welche Positionen vertreten Sie im "Beirat Innenstadt"? 

FONTAINE-KRETSCHMER: Vor dem Hintergrund sich schon länger abzeichnender Entwicklungen und der aktuellen Auswirkungen der Corona-Pandemie haben wir Vorschläge gemacht, um Innenstädten zu helfen. Wir beobachten tiefgreifende Strukturveränderungen – insbesondere im Einzelhandel, aber auch bei Büroimmobilien, Gastronomie und Hotels. Diese Nutzungsanteile verändern sich in den Innenstädten je nach Standort und Größe der Kommunen sehr unterschiedlich. Deshalb brauchen wir differenzierte Lösungsansätze – entsprechend der jeweiligen Stärken. Wir schlagen vor, die Kräfte zu bündeln und zunächst alle Beteiligten an einen Tisch zu holen. Dazu haben wir einen Drei-Stufen-Plan vorgestellt mit kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen. Bevor dieser jedoch umgesetzt werden kann, wird eine "Phase 0" benötigt. Sie ermöglicht es Kommunen, eigene Investitionsvorhaben – auch solche, die außerhalb der Innenstadt geplant sind –, zu überprüfen und deren zukünftige Relevanz zur Belebung der Zentren neu zu bewerten. Nur so ist gewährleistet, dass alle finanziellen Mittel optimal genutzt werden. In der eigentlichen Stufe 1 sollen dann Ad-hoc- Maßnahmen weiteren Leerstand und Funktionsverluste minimieren. Dazu braucht es allerdings eine enge Zusammenarbeit zwischen Handel, Immobilienwirtschaft, Gastronomie, Kulturschaffenden, Kreativwirtschaft, Gründerszene, Handwerk, urbanen Produzenten sowie Anbietern von neuen Arbeitswelten wie etwa Co-Working.

POLISVISION: Wie verhält es sich mit der zweiten Stufe?

FONTAINE-KRETSCHMER: Wichtigste Grundlage zukünftiger Strategien sind integrierte, schnell erstellte Handlungskonzepte, die wir aus den bewährten Städtebauförderprogrammen bestens kennen. Neu daran: die Intergration der Privatwirtschaft. Bisher verlaufen hier oft zwei Parallelwelten: die öffentliche Hand plant Investitionen, ebenso die Immobilieneigentümer – ohne Abstimmung untereinander. Durch eine zeitliche und inhaltliche Kombination beider könnten schnell und umfassend Lösungen gefunden werden. Ein breiter Dialog- und Strategieprozess mit der gesamten Bevölkerung muss Teil der Handlungskonzepte sein – heute auch digital bestens umsetzbar. So entsteht ein Innenstadtleitbild, das für Vielfalt, Lebendigkeit, Attraktivität und Identifikation sorgt. Es gilt, Innenstädte multifunktional und lebendig für alle zu machen – mit Handel, Kultur, Gastronomie, Arbeit, Bildung, Freizeit und natürlich auch mit Wohnen. In jedem Fall sind öffentliche Räume neu zu bewerten, Grün- und Freiflächen als Aufenthaltsorte zu stärken oder gar erst zu schaffen. Insgesamt bietet sich hier nun die einmalige Chance, neu über Stadtentwicklungsziele und nachhaltige Strukturen nachzudenken.

POLISVISION: Was bleibt dann noch für Stufe 3?

FONTAINE-KRETSCHMER: Hier geht es nun um die Umsetzung der neuen Innenstadtstrategie mittels der Städtebauförderung. Sie sollte auf 1,5 Milliarden Euro pro Jahr aufgestockt werden, um den regionalwirtschaftlichen Effekt zu verstärken. Auch die Aufnahme dieses seit mehr als 50 Jahren erprobten Mittels ins Grundgesetz sollte die nächste Bundesregierung ernsthaft prüfen. Die Gelder für diese zukünftigen Programme müssen flexibel und unbürokratisch bereitgestellt werden, beispielsweise auch solche für Zwischennutzungen. Ziel ist es, den Einzelhandel zu stärken sowie neue Nutzungen und innovative Geschäftsmodelle nachhaltig zu etablieren. Die Steuerung sollte ein Transformationsmanagement übernehmen, dessen Aufgaben deutlich über das übliche Citymanagement hinausgehen. Unternehmen wie wir – mit erwiesener jahrzehntelanger Expertise in der Akquisition von Fördermitteln, der Moderation, der Bürgerbeteiligung sowie der Kommunalberatung – sind dafür bestens aufgestellt.

Statement

"Wir brauchen mehr Vielfalt"

Innenstädte werden in Zukunft keine reinen Einkaufsmeilen mehr sein. Der Online-Handel boomt, und Corona hat diesen Trend massiv verstärkt. Immer mehr Ladenlokale bleiben leer. Die Menschen wollen etwas erleben, wenn sie in die Stadt gehen – etwas, das es online nicht gibt. Einkaufen allein reicht nicht mehr. Wir brauchen mehr Vielfalt. Deshalb arbeiten die Städte an neuen Konzepten für Innenstädte und Stadtteilzentren: Wir wollen mehr Platz für Atmosphäre, Begegnung, Grün, Kultur, Sport, regionale und nachhaltige Waren, Werkstätten von Handwerkern, Co-Working-Spaces und vieles mehr. Auch Schulen, Kitas, Bibliotheken und Uni-Standorte können Stadtzentren beleben. Und in Innenstädten müssen wieder mehr Menschen wohnen können. Davon kann dann auch der Handel profitieren. Für den Wandel sollte der Bund schnell ein Förderprogramm Innenstadt auflegen. Wir schlagen dafür 500 Millionen Euro jährlich über eine Laufzeit von fünf Jahren vor. Damit könnten Innenstadtkonzepte, Projekte zur Vermeidung von Leerständen und das Citymanagement gefördert werden.

Innenstädte werden in Zukunft keine reinen Einkaufsmeilen mehr sein.

Helmut Dedy
Statement

"Die Händler alleine zu lassen, wäre fatal"

Auch nach mehr als einem Jahr Corona-Pandemie ist die Lage im Einzelhandel extrem angespannt. Lockdowns und anhaltende Einschränkungen haben tiefe Spuren hinterlassen. Über eigene Online-Shops, die sozialen Medien, Abholangebote oder individuelle Terminvereinbarungen versuchen Händler, den Kontakt zu ihren Kunden zu halten. Die innovativen Ideen der vergangenen Monate zeigen, wie kreativ der Handel auch in diesen Zeiten ist, und stoßen doch an ihre Grenzen. Bis heute sind die Kundenfrequenzen gering, die Umsatzlücken groß, die Existenzängste immens. Durch die Pandemie sind viele Händler unverschuldet in Not geraten. Sie in dieser Situation alleine zu lassen, wäre fatal. Unsere Städte könnten bis zu 120.000 Geschäfte verlieren. Daher braucht es eine schnelle und zielgenaue Ausweitung der Corona-Hilfen. Und auch die Zukunft der Stadtzentren hängt an angemessener staatlicher Unterstützung für einen Neustart in den Innenstädten, etwa durch einen Innenstadtfonds in Höhe von 500 Millionen Euro pro Jahr. Denn den Weg aus der Pandemie können Handel, Kommunen und Politik nur gemeinsam gehen.

Statement

BMI plant Förderaufruf

Die Auswirkungen der Corona-Pandemie sind in ihrer gesamten Tragweite heute noch gar nicht absehbar. Laut einer aktuellen Einschätzung des HDE sind zwischen 80.000 bis 120.000 der Innenstadthändler in ihrer Existenz aufgrund der Corona-Krise bedroht. Ein Kernproblem wird daher drohender Leerstand, drohende "Verödung" in den Zentren sein. Bis Sommer 2021 wird das BMI mit Begleitung des Beirates Innenstadt eine Innenstadtstrategie erarbeiten. Ziel ist es, den Kommunen insbesondere mit gut aufbereiteten Gute-Praxis-Beispielen dabei zu helfen, ihre Zentren als lebenswerte Räume zu erhalten beziehungsweise zu entwickeln. Gemeinsames Grundverständnis im Beirat ist, dass attraktive und lebendige Innenstädte und Zentren geprägt sind durch Nutzungsmischung, Funktionsvielfalt und hohe Aufenthaltsqualitäten. Das BMI plant in Kürze die Veröffentlichung des Förderaufrufes "Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren" mit einem Programmvolumen von 25 Millionen Euro. Ob es weiterer Ad-hoc-Instrumente bedarf und welche zusätzliche Wirkung diese entfalten können, wird das BMI mit den Partnern im Rahmen des Beirates Innenstadt analysieren müssen.

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